Der Traumvogel

Eine Geschichte für Kinder und Erwachsene                                                     

Bilder und Text von Matthias Müller Kuhn

1.
Lisa liegt im Bett und kann nicht einschlafen. Sie ist traurig, denn Angelo, ihr liebster Vogel, ist aus dem Käfig entflogen. Sie hat ihn mit Papa und Mama gesucht im Garten, bei den Nachbarn und sogar im nahegelegenen Wald, aber nirgends war er zu finden. Wie konnte denn Angelo entfliegen? Lisa hat vergessen, das Türchen des Käfigs zu schliessen. So konnte Angelo mit dem Schnabel das Türchen aufstossen und durchs Fenster hinausfliegen. Wo mag er nur sein? denkt Lisa. Sie beginnt zu weinen und sagt leise: "Angelo, mein Vogel, ich habe dich so lieb. Du bist der schönste Vogel auf der ganzen Welt. Komm zu mir zurück." Langsam wird Lisa müde und die Augen fallen ihr zu. Auf einmal hört sie eine helle Stimme, die zu ihr sagt: "Ich bin der Traumvogel. Steig auf meinen Rücken. Wir werden Angelo suchen, bis wir ihn gefunden haben."

2.
Lisa steigt auf den Rücken des Traumvogels. Sie fliegen zum Nachthimmel hinauf. Lisa schaut aus der Höhe hinunter und sieht ihr Haus und den Garten, wo ihre Schaukel und ihre Rutschbahn stehen. Sie sieht Moggli, ihren Hund. Er hat als einziger bemerkt, dass Lisa nicht mehr in ihrem Bett liegt. Er wedelt mit dem Schwanz und schaut erstaunt dem grossen Vogel nach. Lisa fragt den Vogel: „Wo fliegen wir hin?“ Der Traumvogel antwortet: „Wir fliegen zu meinem Freund, dem Engel. Er wohnt in der grossen Kirche der Stadt. Er weiss vieles über die Menschen und die Tiere, er wird uns sicher sagen können, wo Angelo hingeflogen ist.“ Der Traumvogel steigt immer höher mit Lisa auf dem Rücken. Lisa hält sich an seinem Hals fest, ihre Haare flattern lustig im Wind. Auf einmal sieht sie viele Lichter. „Was ist da unten?“ fragt sie. Der Traumvogel erklärt ihr: „Das ist die Stadt. In ihrer Mitte siehst du die grosse Kirche, wo der Engel wohnt.“

3.
Lisa und der Vogel sind in der Stadt bei der grossen Kirche angekommen. Der Traumvogel öffnet mit dem Schnabel die Tür zur Kirche, und sie treten ein. „Wo ist der Engel?“ fragt Lisa ungeduldig. Der Vogel deutet nach vorne und sagt: „Siehst du das grosse runde Fenster? Es ist ein riesiges Rad. Schau lange mitten hinein, so fängt es an, sich zu drehen. In diesem Fenster wohnt der Engel.“ Plötzlich sieht Lisa den Engel, sie fragt so laut, dass die ganze Kirche davon widerhallt: „Lieber Engel, weisst du, wo Angelo hingeflogen ist?“ Der Engel lächelt und sagt freundlich: „Ich habe Angelo gesehen. Weisst du, Lisa, er wollte nicht länger im Käfig wohnen. Er wollte mit den anderen Vögeln, seinen Brüdern und Schwestern, in seine Heimat fliegen. Wenn es bei uns Winter wird, ziehen die Vögel in ein wärmeres Land nach Afrika. Geh zum weisen Elefanten in Afrika, er kennt alle Tiere in seinem Land, er wird dir sagen können, wo Angelo ist.“ Lisa dankt dem Engel für seine freundliche Auskunft. Der Traumvogel stösst Lisa mit dem Schnabel an den Arm und sagt: „Komm, wir fliegen nach Afrika.“

4.

Es ist eine lange Reise nach Afrika. Als sie beim weisen Elefanten angekommen sind, darf sich Lisa auf seinen Rüssel setzen. Der Elefant ruft die Tiere zusammen und fragt sie: „Wer von euch hat Angelo zum letzten Mal gesehen? Das Zebra antwortet: „Angelo war bei uns, aber seit einiger Zeit ist er verschwunden. Niemand weiss, wo er ist. Der Elefant sagt zu Lisa: „Vielleicht hat der Drache deinen Vogel gefangen. Der Drache wohnt in der Schlucht und ist gefährlich. Doch wenn du ihm in die Augen schaust, tut er die nichts.

5.
Der Traumvogel sagt zu Lisa. „Gehe den schmalen Weg hinab, zuunterst wohnt der Drache in einer Höhle. Denk daran, was der weise Elefant zu dir gesagt hat: Schau dem Drachen in die Augen.“ In der Schlucht ist es dunkel, nur die Mondsichel steht am Himmel. Lisa steigt ganz allein auf dem schmalen Pfad in die Tiefe. Sie geht über eine Brücke, die über den reissenden Bach führt. Plötzlich hört sie hinter sich ein Geräusch und dreht sich um. Sie sieht den Drachen, er zeigt seine Zähne, er will auf sie zuspringen und sie mit seinen Krallen packen. Lisa nimmt allen Mut zusammen und schaut ihm in die Augen. Da erscheint auf ihrer Hand eine Kugel aus Licht, die hell strahlt in der dunklen Schlucht. Der Drache bleibt stehen, er ist ganz verändert und sagt freundlich: „Lisa, du hast mich mit deinem Mut besiegt. Ich bin nicht so böse, wie die Menschen und Tiere glauben. Nur weil mich niemand mehr sehen will, habe ich viel Böses getan. Aber deinen Angelo habe ich nicht gefangen.“ Der Drache schaut in die Lichtkugel auf Lisas Hand und sagt: „Ich sehe in der Lichtkugel eine Stadt, die tanzt, und in ihrer Mitte spielt ein Mann auf der Geige.“ Lisa blickt in die Lichtkugel und sieht plötzlich die tanzende Stadt.

6.
Der Traumvogel tanzt mit Lisa in der tanzenden Stadt. Die Häuser tanzen, alles tanzt. Mitten in der Stadt spielt der Mann auf der Geige. Wenn seine Musik erklingt, muss alles tanzen, sogar die Steine tanzen. Plötzlich hört er auf zu spielen und sagt zu Lisa: „Du suchst Angelo? Ein Zirkus ist in die Stadt gekommen. Frage den Clown, er wird dir den Weg zu deinem verlorenen Vogel zeigen.

7.
Lisa tritt mit dem Traumvogel ins Zirkuszelt. Die Vorstellung hat schon begonnen, viele Leute sitzen im Zelt. Der Clown kommt auf Lisa zu und sagt zu ihr: „Gut, dass du da bist. Das Mädchen, das sonst auf dem Pferderücken tanzt, ist krank. Willst du ihre Zirkusnummer übernehmen?“ Der Clown führt Lisa zur Manege, in der ein grosses, schönes Pferd im Kreis galoppiert. Der Clown ruft Lisa zu: „Steige auf den Rücken des Pferdes und tanze darauf.“ Lisa tut, wie ihr der Clown gesagt hat. Ohne Mühe macht sie auf dem Rücken des Pferdes die gewagtesten Kunststücke. Plötzlich verliert sie das Gleichgewicht und wirbelt durch die Luft, aber der Clown fängt sie auf und hält sie sicher in seinen Armen. Die Leute klatschen und lachen, denn eine so lustige Nummer haben sie schon lange nicht mehr gesehen. Der Clown flüstert Lisa ins Ohr: „Vielen Dank für deine Kunststücke. Ich habe gehört, dass du deinen Vogel Angelo suchst. Wenn du ihn finden willst, geh ans Ende der Welt. Du wirst dort einen Einsiedler treffen, der die weiterhilft.

8.
Lisa macht sich mit dem Traumvogel auf den Weg ans Ende der Welt. Sie kommen zu einer blühenden Blumenwiese. Der Traumvogel bittet Lisa: „Lass uns hier ausruhen.“ Sie legt sich ins Gras, der Vogel schläft in ihrer Hand ein. Lisa denkt über alles nach, was sie bisher unterwegs erlebt hat. Wenn ich nur am Ende meinen Vogel wiederfinde,“ sagt sie zu sich selbst.

9.
Es ist ein langer Weg bis ans Ende der Welt, er führt durch einsam Gegenden, durch Wiesen und Wälder. Endlich ist Lisa und der Traumvogel am Meer angekommen. „Hier hört die Welt auf, hier wohnt der Einsiedler,“ denkt sie. Ein heftiger Wind weht, dunkle Wolken ziehen übers Meer. Lisa entdeckt die Hütte, wo der Einsiedler ganz alleine wohnt. Sie bemerkt einen grossen Mann, der auf sie zukommt. Er sieht wild aus, hat lange Haare und einen Bart. Sie fragt ihn: „Bist du der Einsiedler?“ „Ja, der bin ich,“ sagt er mit tiefer Stimme. „Was tust du den ganzen Tag so alleine hier?“ will Lisa wissen. „Ich höre dem Wind zu. Er erzählt mir von den unterfüllten Wünschen der Menschen. Von ihm weiss ich auch, das du dir deinen Vogel zurückwünschst.“ „Kannst du mir sagen, wo ich ihn finde?“ fragt Lisa ungeduldig. Der Einsiedler schaut ihr tief in die Augen und sagt: „Im Meer wohnt der Goldfisch. Er ist der König der Fische. In seinen goldenen Schuppen glänzt die Sonne. Er hat sieben Freunde, die bei ihm wohnen. Springe hier vom Felsen ins Meer und tauche bis zum Grund. Der Goldfisch wird dich auf dem Weg zu deinem verlorenen Vogel begleiten.“

10.
Lisa springt ins Meer und taucht hinunter bis zum Grund. Auf einmal schimmert es hell zwischen den Klippen. Der Goldfisch mit seinen sieben Freunden schwimmt auf Lisa zu und sagt: „Setz dich auf meinen Rücken, ich bringe dich zum grossen Regenbogen.“

11.
Der Goldfisch bringt Lisa zum Regenbogen, der mitten im Meer steht und sagt zu ihr: „Steige den Regenbogen hinauf, dann kommst du zur Sonne. Sie weiss, was auf der Erde geschieht, denn ihre Strahlen kommen überall hin. Sie wird dir alles über deinen verlorenen Vogel sagen.“ Der Goldfisch verschwindet daraufhin mit seinen sieben Freunden im Wasser, bald ist er nicht mehr zu sehen, nur die Wellen glänzen noch von seinen goldenen Schuppen. Lisa steigt mit dem Traumvogel den Regenbogen hinauf. Unter sich sieht sie ein Schiff mit bunten Segeln. Der Wind weht und bläst weisse Wolken übers Meer. Lisa denkt: Es ist wunderbar, auf dem Regenbogen zu gehen. Ich bin gespannt, was mir die Sonne über meinen Angelo sagen wird.“

12.
Lisa und der Traumvogel sind oben auf dem Regenbogen angekommen. Sie schauen hinauf zur Sonne, die lächelt und sagt: „Lisa, du bist ein mutiges Mädchen. Ich habe dich auf deiner Reise begleitet und habe dir die Lichtkugel in die Hand gelegt, als du dem Drachen in die Augen schautest, ich habe für dich den Regenbogen in den Himmel gestellt, dass du zu mir hinaufsteigen kannst.“ Lisa sagt: „Das ist lieb von dir, Sonne. Aber willst du mir jetzt sagen, wo mein Angelo ist?“ Die Sonne macht ein ernstes Gesicht und sagt: „Angelo ist weit weg. Er ist nicht mehr auf der Erde. Schau ins Weltall hinaus, siehst du die vielen Sterne? Einer von ihnen ist der Vogelplanet, auf ihm leben die verschiedensten Vögel in Frieden miteinander und spielen mit meinen Strahlen. Dorthin ist dein Angelo geflogen.“ Lisa fragt: „Wo ist der Vogelplanet?“ Die Sonne zeigt mit ihren Strahlen auf einen weit entfernten Stern und sagt: „Dort ist er, siehst du ihn?“


13.
Lisa fliegt auf dem Rücken des Traumvogels durchs Weltall zum Vogelplanet. Auf einmal sieht sie alle ihre Bekannten wieder, die ihr auf dem Weg zu ihrem verlorenen Vogel geholfen haben: Lisa sieht den Goldfisch, den Clown, den Elefanten, den Drachen, den Einsiedler, den Geiger und den Engel. Sie sind auf ihrem eigenen Stern und winken Lisa zu. Lisa winkt zurück und ruft ihnen zu: „Vielen Dank, dass ihr mir geholfen habt.“

14.
Auf dem Vogelplanet sind die Vögel frei und glücklich. Eule, Pelikan, Nachtigall, Schwalbe, Adler, Specht, Ente, Kolibri und Spatz sind Freunde und leben in Frieden miteinander. Hier, auf dem Vogelplanet ist auch Angelo. Er spielt mit seinen vielen  Freunden und ist vergnügt. Lisa sieht ihren Vogel mitten unter den vielen anderen. Sie ist überglücklich und sagt erleichtert: „Angelo, endlich habe ich dich gefunden!“

15.
Die Nacht ist vorbei, die Sonne ist schon aufgegangen. Die Mutter kommt in Lisas Zimmer, Moggli, der Hund, springt aufgeregt zum Bett und legt eine Pfote auf Lisa. Die Mutter sagt: „Wache auf, Lisa, ich habe eine Überraschung für dich, schau, Angelo ist zurückgekommen.“ Lisa schlägt die Augen auf und sagt verwundert: „Wo bin ich? Was ist geschehen?“ Die Mutter erklärt: „Wir haben Angelo wieder gefunden. Heute Morgen sass er auf einem Strauch im Garten.“ Lisa ist ausser sich vor Freude und ruft: „Angelo, lieber Angelo, endlich bist du wieder bei mir!“ Plötzlich wird sie nachdenklich und sagt etwas betrübt: „Aber wo ist der Traumvogel?“ „Was für ein Traumvogel?“ fragt die Mutter erstaunt. Lisa erzählt: „Ich habe eine lange Reise gemacht, überall habe ich Angelo gesucht. Ein Clown und andere Bekannte haben mir den Weg gezeigt. Ich war auf dem Vogelplanet, und der Traumvogel hat mich überall hin begleitet.“ Die Mutter sagt verständnisvoll: „Dann haben wir es wohl dem Traumvogel zu verdanken, dass Angelo wieder bei uns ist. Lisa, ich habe eine Idee. Wir kaufen einen zweiten Vogel, damit Angelo eine Freundin hat und nicht mehr so alleine ist.“ Lisa umarmt ihre Mutter und sagt: „Wenn der Traumvogel heute nacht wieder zu mir kommt, werde ich ihn fragen, ob er bei uns bleiben will. Angelo und der Traumvogel werden sicher gute Freunde werden.“

 

 

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