Die Tänzerin im Bergkristall

Von der verwandelnden und befreienden Kraft der Seele

 

1. Teil

Der Bergkristall

siebzehn Märchen

von Eveline Leutwyler

 

2. Teil

Die Tänzerin im Bergkristall

Eine Annäherung an die Märchen des Bergkristalls

von Matthias Müller Kuhn


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Matthias Müller Kuhn und Eveline Leutwyler
Matthias Müller Kuhn und Eveline Leutwyler

Eveline Leutwyler, geboren 1939, war seit ihrem 5. Lebensjahr gelähmt. Durch ihre Krankheit, die schulmedizinisch nie genau diagnostiziert werden konnte, wurde sie wegen spastischer Lähmungen in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Sie hatte es nach längeren Aufenthalten in Pflegeheimen und Kliniken geschafft, in einer Wohnung in Zürich selbständig zu leben. Auf ihrem Weg des Ringens um Anerkennung und Selbständigkeit, welcher sie oft an die Grenze des Erträglichen führte, schrieb sie Märchen, in denen sie ihre Erfahrungen ausdrückte. Sie schuf in der Märchensammlung „Der Bergkristall“ ein eindrückliches Zeugnis einer existentiellen Suche nach Sinn und Befreiung, welches über unsere Zeit hinaus Menschen auf ihrem Weg eine Hilfe sein kann. Einige ihrer Märchen wurden bereits in Dialektfassung vom Radio DRS ausgestrahlt.         Eveline Leutwyler ist am 15. Mai 2009 nach langem Leiden an Ihrer Krankheit gestorben.

Eine Begegnung
Aus dem Vorwort von Matthias Müller Kuhn 

    Die Frau im Elektrorollstuhl wird kaum beachtet. Sie fährt zielstrebig an den kleinen Tischen vorbei, um welche sich die jungen Leute drängen, dem Ausgang zu, den sie über eine spezielle Rampe für Behinderte erreicht. Sie hat das Nötigste eingekauft und hinten im Rollstuhl verstaut. Plötzlich sieht sie eine ihr bekannte Person, welche an einem der letzten Tische vor dem Ausgang sitzt und steuert auf sie zu. Eine zufällige Begegnung. Er ist ein Mann Mitte vierzig. Eben hat er seinen Kaffee ausgetrunken und will aufstehen, um dem Ansturm der Schüler zu entgehen. Die beiden kommen ins Gespräch, einige Wortfetzen gehen unter im Lärm, der durch die kahlen, hohen Glaswände verstärkt wird. Sie haben sich kürzlich bei einer kirchlichen Veranstaltung kennen gelernt und fielen gleich auf die philosophischen Grundfragen des Seins, so, wie wenn ein achtlos geworfener Stein auf eine Glocke trifft und ein Klang entsteht, der überrascht und zugleich erfreut! Sie verabschieden sich voneinander: Sie bräuchten einen anderen Ort und mehr Zeit, um das damals angefangene Gespräch fortzusetzen. „Melden Sie sich einfach bei mir“, sagt er, bevor die beiden vom Strom der hereindrängenden Menschen fort geschoben werden.

Der Bergkristall
(ein Märchen von Eveline Leutwyler)


Es war einmal ein kleines Mädchen, das wohnte in einer grossen Stadt. In dieser Stadt ging das Gerücht von einem gar wunderbaren Bergkristall herum, der irgendwo tief in einem Berg eingeschlossen sei. Viele hatten schon versucht, ihn zu finden, waren aber nie zurückgekehrt.

   Das kleine Mädchen hörte es eines Nachts rufen. Es war der Kristall. Also machte sich das Mädchen auf. Es ging auf einer staubbedeckten Strasse, so dass es immer husten musste. Auch die feinen Schuhe des kleinen Mädchens waren bald in Fetzen. Barfuss, wie es nun war, bluteten seine Füsse bald. Aber es hörte in sich immer den Ruf des Kristalls, und so ging es weiter. Zum Schmerz der wunden Füsse gesellte sich bald der Durst, aber das Mädchen wusste, dass der Weg weit war und dass es den Bergkristall finden würde.

   Es wurde dunkel, schwere Wolken zogen am Himmel auf, Blitze zuckten durch die Nacht und der Regen prasselte auf das kleine Mädchen nieder. Da stand eine alte Holzhütte am Weg. Das kleine Mädchen suchte Schutz und kauerte sich unter das Vordach der Hütte, zu klopfen traute es sich nicht. Vor Erschöpfung schlief es ein, und sein Kopf fiel zur Seite gegen die Türe.

   Das Geräusch hörte der Mann, der in der Hütte wohnte und gerade in der Stube sass. Er ging zur Türe, öffnete sie, sah das kleine Mädchen, hob es auf und trug es in die Hütte. Er war lieb mit dem kleinen Mädchen, und es wurde vertraut mit ihm. Da erzählte es ihm von dem Kristall. Der Mann schaute nachdenklich ins Kaminfeuer, dann sagte er:

   „Ich weiss, wo der Bergkristall ist. Es ist schwer, ihn zu finden, aber ich werde dir helfen. Nur gibt es eine Grenze, darüber hinaus musst du selber gehen.“

   So machten sie sich zusammen auf, das kleine Mädchen und der Mann. Bald kamen sie zu einem Wald. Der war schwarz, die Stämme der Bäume und das Unterholz waren ineinander verwachsen. Dornen drohten zu stechen. Das kleine Mädchen schob seine Hand in die des Mannes. Dieser fasste fest zu und sagte:

   “Hab keine Angst, ich zeige dir, wie wir durchkommen.“

   Er hatte eine Sichel in der Hand. Wo er auch mit ihr hinkam, bahnte sie einen Weg, um beide durchzulassen. Hinter ihnen schloss sich der schwarze Wald sofort wieder. So arbeiteten sie sich langsam durch bis zu einem Bach. Aber der Bach hatte schwarzes Wasser. Er konnte nicht erfrischen.

  

Das kleine Mädchen war müde. Da setzten sich der Mann und das Mädchen auf einen Stein. Der Mann sagte zu dem Mädchen: „Hier, in diesem Wald gibt es gar nicht weit von uns einen grossen Felsen, in dem der Bergkristall eingeschlossen ist. Eine böse Fee hütet ihn für sich. Darum ist alles so schwarz und voller Dornen, und das Wasser kann nicht erfrischen. Jetzt musst du alleine weitergehen. Die Sichel gebe ich dir, damit du den Weg weiter findest. Aber fürchte dich nicht. Du wirst im rechten Augenblick das Richtige tun.“

   Dann war er verschwunden.

   Das kleine Mädchen musste die Sichel in beide Hände nehmen, denn sie war sehr schwer. Die Sichel schnitt den Weg frei, immer soviel, dass das kleine Mädchen Platz fand. Hinter ihm schloss sich der schwarze Wald immer wieder. Kein Vogel sang, kein Blatt wisperte im Wind, kein Bach murmelte durchs Moos. Es wurde Nacht, schwarze Nacht. Da war eine Lichtung! Der Fels! Das kleine Mädchen riss die Augen weit auf, um wenigstens etwas zu sehen.

   Es donnerte gewaltig, und ein dunkles Gespann raste aus den Wolken hernieder. Die feurigen Rappen, vor einen schwarzen Schlitten gespannt, wurden von einer schwarzen Frau, die auf dem Schlitten stand, mit der Peitsche angefeuert. Das Gefährt hielt vor dem Felsen. Die Rappen waren schweissbedeckt und zitterten, aber sie standen wie angewurzelt. Die schwarze Fee sprang vom Schlitten. Laut lachend stand sie vor dem Felsen und rief befehlend:

   „Kristallschloss öffne dich!“

   Da öffnete sich der Fels und erzitterte in seinen Grundfesten. Ächzend wie klagend gab er sein Inneres preis. Ein herrlicher Kristall, ohne Fehl, gewachsen in der Tiefe dieses Berges, durchsichtig wie klares Wasser, rein, aber ohne Glanz kam zum Vorschein. Die böse Fee sah ihn an:

   „Mein bist du, nie soll dich jemand sehen und sich an dir freuen. Nur meine Augen sollen sich an dir weiden. Wenn dich jemand sieht, bist du für mich verloren. Aber ich hüte dich. Du wirst  niemals glänzen! Ich habe dafür gesorgt, dass niemals jemand zu dir kommt!“

   Das kleine Mädchen trat aus dem Dunkel und berührte den Kristall. Jetzt begann er zu funkeln und zu strahlen in einem unbeschreiblich hellen, warmen Glanz, der alles verwandelte. Der Wald war grün, die Vögel sangen im Geäst, Blumen blühten, Bächlein sprudelten mit frischem Wasser. Das kleine Mädchen sah alles und freute sich. Da blitzte an seiner Hand etwas auf. Der grosse Bergkristall hatte dem kleinen Mädchen einen wunderschönen Ring mit einem Splitter von sich geschenkt. Vor dem Fels wartete ein prächtiger Schimmel. Auch dieser gehörte ihm. Nun war das kleine Mädchen gut ausgerüstet und ritt in den hellen Wald hinein.

Aus dem Kommentar zu den Märchen
(von Matthias Müller Kuhn)

Kurz vor Weihnachten rufst du mich an und sagst mir, dass es dir schlecht geht und dass die Krankheit wieder zurückgekehrt ist. Ich merke deiner Stimme an, dass es sehr ernst ist und verspreche einen Besuch bei dir, so bald wie möglich.

   Am nächsten Morgen klingle ich an der Eingangstür des grossen Wohnblocks, deine Stimme ist durch die Gegensprechanlage nur schwach hörbar: „Wer ist da?“ Ich weiss nicht, wie ich dich antreffen werde. Hat sich deine gesundheitliche Verfassung nach dem Spitalaufenthalt derart verschlechtert, dass nun schon der Tod in deine Nähe gekommen ist? Die Tür öffnet sich durch ein leises Surren, ich gehe die enge Treppe hoch.

Die Wohnungstür ist angelehnt, ich trete ein und sehe dich zu meinem Erstaunen im Rollstuhl sitzen, zwar schwach und vornüber gebeugt, aber mit klarem Blick, der mich willkommen heisst: „Schön, dass du da bist.“   Ich setze mich in den Sessel dir gegenüber. Dein Gesicht ist bleich und schmal, deine Hände ruhen gross und gelassen in deinem Schoss. Deine Füsse sind wie immer angewinkelt, in grosse Stützschuhe eingebunden, deine Beine hilflos, wie nicht ganz zu deinem Körper gehörig. Schon als du ein kleines Mädchen warst, wollten deine Beine dich nicht tragen, sie verweigerten dir ein Fortkommen und verkrampften sich, sie wurden steif, schwach und verloren ihre Muskeln. Auf den Spaziergängen damals mit deiner Mutter sacktest du plötzlich zusammen. Sie musste dich nach Hause tragen, obwohl sie deine Krankheit, die langsam von dir Besitz ergriff, nicht wahrhaben wollte. Es war dir, als würden deine Beine ohne dich davonlaufen und dich verlassen.

Es sind fast drei Monate vergangen. Gesundheitlich geht es dir wieder besser, obwohl das Leben für dich eine Gratwanderung bleibt. Du fühlst dich in deine Krankheit zurückgeworfen. Die gleichen Symptome der Spasmen und Verkrampfungen treten auf wie zu der Zeit, als die Krankheit in deiner Kindheit ausbrach.

   Der Bergkristall ist mein stiller Begleiter geworden. Wie sehr staune ich, als ich bemerke, dass du einen eingefassten Kristall an einer Kette um den Hals trägst als stillen Schmuck und als Zeichen, dass für dich im Kristall ein tiefes Geheimnis verborgen liegt.

   Ich tauche in die Märchen und Geschichten ein und betrete ein Land, das es neu zu entdecken gilt. Was liegt vor mir? Es sind Schlösser auf Hügelkuppen, weite Täler mit wilden Wasserläufen, fruchtbare Ebenen, tiefe, undurchdringliche Wälder und irgendwo ein Ort, an dem ich eine eigentümliche Geborgenheit finde.

   Der Bergkristall ruft! Hast du selbst diesen Ruf vernommen in einer stillen Stunde, wurde er immer lauter und übertönte auch die alltäglichen, schrillen Geräusche und die Stimmen der Menschen? Oder blieb der Ruf leise wie eine feine Melodie, die du manchmal kurz vor dem Einschlafen oder nachts in den Träumen hörtest? Hast du dich auf den Weg gemacht wie das kleine Mädchen und gerietest in jenen undurchdringlichen Wald, in jene gnadenlose Wildnis, die dich zu verschlingen drohte?

Bilder von Eveline Leutwyler/ Aquarell auf Papier