Poetisches Evangelium

Verkündigung


Und der Engel trat bei Maria ein und sprach: Sei gegrüsst, du Begnadete, der Herr ist mir dir!  (Lk 1,28)

Nur eine Stimme ist’s.
Maria lauscht in ihrem stillen Zimmer
und lässt den Blick über Spiegel gleiten:
Wie fern ist plötzlich die Welt.

Ein Engel berührt ihre Lippen
mit sanftem Fingerzeig: Schweige,
sage nicht, mein Leben ist zu klein.
Ich führe dich von Kreis zu Kreis.
 
Lege dein Vertrauen in den grösseren Umfang,
schmiege dich in die Wellen des Lichts.
Höre Meere rauschen in meinem Atem
und Winde von himmlischer Herkunft.
 
Sei ein Gefäss, umfasse mein Wort.
Gib dem zugewehten Samen das Erdreich,
dass er in dir gedeihe und Gott selbst
Wurzeln schlage in deiner bescheidenen Zeit.Verkündigung 


Simeon


Und da war in Jerusalem einer mit Namen Simeon, und dieser Mann war gerecht und gottesfürchtig; er wartete auf den Trost Israels, und heiliger Geist ruhte auf ihm.  (Lk 2,25)

 

Langes Warten! Wann endlich kommt im Leben
die Erfüllung? Jahre vergehen und fliessen gleichgültig
im Fluss der Zeit. Ziele schwimmen an uns vorbei,
sie zu erreichen, reicht unsere Kraft nicht aus.

Aber Simeon hat innen die Gewissheit,
Jesus zu sehen: Diese seltene Blüte,
die er immer suchte, wie im Spiegel sich selbst,
verwandelt in Licht, das noch verborgen ist.

Simeons Träume sind voll davon: Duft
verströmende Sehnsucht. Mit geschlossenen
Augen errät er den Namen der Blume,
im Wind fortgetragen, vergisst er ihn wieder.

Aber jetzt, im hohen Alter, wird Simeon gerufen:
Geh in den Tempel, dort begegnet dir das Kind!
Schau ich durch die Fenster meiner Seele am Ende
den Anfang kommen, wie alles noch einmal beginnt?

Taufe


Und es geschah in jenen Tagen, dass Jesus aus Nazaret in Galiläa kam und sich von Johannes im Jordan taufen liess.

(Mk 1,9)

Im Innern wusste Jesus schon immer: Ich bin
von besonderer Herkunft. Welche Kindheit vermag
dieses Wachstum zu fassen? Er war ein Knabe,
plötzlich stürmte die Fülle des Himmels in ihn hinein.


Wie soll ich diese Fluten aufhalten? Mein zartes Alter
kann nicht bestehen, ich werde fortgeschwemmt und
ertrinke im anschwellenden Strom meiner Bestimmung.
Doch innen reift die Gewissheit: Ich bin Gottes Sohn.

Ohne diesen grossen Auftrag werde ich nicht sein. Ich
flechte in jedes Lächeln der Menschen die Goldfäden

der Güte Gottes. Ich verwandle das im Dunkeln
Verschlossne und erlöse, was durchs Böse gefangen ist.

Da kommt Jesus zu Johannes an den Jordan.
Dieser Fluss nährt und trägt das ganze Land und bringt                                  

steinige Äcker zum Blühen und giesst in der Wüste                                          

Farben aus. Tauche, Jesus, jetzt ins klare Wasser!

Verklärung


Und sechs Tage danach nimmt Jesus den Petrus, den Jakobus und den Johannes mit und führt sie auf einen hohen Berg, sie allein. Da wurde er vor ihren Augen verwandelt.  (Mk 9,2)

Wir steigen auf jenen Berg: Wie klein werden
die Dörfer, die Seen und Weiden, wo verloren einige Schafe                          

stehen. Was willst du uns zeigen, Jesus? Der Himmel                                          

wird grösser, in der Ferne ahnen wir das Meer.

Der Weg ist steil, du führst uns aus dem kleinen
bekannten Alltag heraus. Als wir noch Netze warfen,
um Fische zu fangen, kannten wir die Welt.
Jetzt kommt, Schritt für Schritt, das Neue auf uns zu.

Auf dem Gipfel, plötzlich, werden die Kleider Jesu
weiss. Glanz fliesst aus den Falten, jäh blendende Sonne,                             

überstürzt reissende Flutwellen von Licht,
wir ertrinken in hoch aufschäumenden Wogen.

Wir fallen aufs Gesicht, das Übermaß hereinbrechender                                

Himmel ertragen wir nicht. Du stehst gelassen da.
Wie weit und gereift muss deine Seele sein,
sie umfasst Meere voll von Gottes Glanz.

Bilder von Fra Angelico, Florenz

Copyright by Matthias Müller Kuhn