Der Geschichtenteppich

Ein Teppich

mit neun tiefsinnigen Geschichten

für Leser und Leserinnen jeden Alters

 


Aus dem Vorwort


Alles begann damit, dass der Autor dieses Buches auf den Markt einer kleinen belgischen Stadt ging. Ohne die Absicht, etwas zu kaufen, nur so, um die Zeit zu vertreiben, schlenderte er an den vielen Ständen vorbei. Bei den einen wurden verschiedene Gemüse feilgeboten, bei anderen waren Kleider ausgehängt zu äusserst günstigen Preisen.

   Plötzlich erregte ein kleiner, unscheinbarer Stand seine Aufmerksamkeit. Auf der Tischlade waren allerlei Gegenstände aufgetürmt, von denen nicht deutlich war, was für einen Nutzen sie für einen allfälligen Käufer haben könnten. Es war alles nur alter Kram: Eine verrostete Kaffeemühle, ein Wecker mit eingeschlagenem Glas, ein Messer mit krummer Klinge. Hinter der Auslage stand ein älterer Mann, der gemütlich seine Pfeife schmauchte. Er hatte eine bunte Mütze schief in seine Stirn gezogen. Nach seinem freundlichen Aussehen zu urteilen, schien es ihn nicht zu stören, dass seine Waren kaum beachtet wurden.    Der Autor blieb stehen, nickte dem Verkäufer lächelnd zu und liess seinen Blick langsam über die vielen bunt zusammen gewürfelten Artikel fallen, die wohl selbst erstaunt waren, sich auf einem Markt wieder zu finden. Seine Augen blieben an einem Gegenstand haften, der unauffällig auf der Seite an einem Balken hing. Es war ein Teppich, verstaubt und abgenützt.

   Der Autor kaufte den Teppich für wenig Geld und legte ihn bei sich zu Hause neben seinem Schreibtisch auf den Boden. Da dem Autor das lange Sitzen auf einem Stuhl ein Gräuel ist, liess er sich auf den neu erworbenen Teppich nach seiner Gewohnheit im Schneidersitz nieder.

   Da geschah etwas Sonderbares: Der Teppich hob vom Boden ab und trug den Autor mit sich durch das Fenster in die Luft. Vielleicht sagen nun einige, dass es gar nicht möglich ist, auf einem Teppich zu fliegen. Da muss der Autor mit allem Nachdruck widersprechen. Sehr wohl ist es möglich, auf einem Teppich zu fliegen. Der Autor selber hat es erlebt.    Alle wissen sehr gut, dass das, was jemand selber erlebt hat, einem niemand ausreden kann. Wohin aber ist der Autor mit dem Teppich geflogen? Ja, genau darüber geht dieses Buch. Der Autor wurde nämlich vom Teppich in die Geschichten hineingetragen, die auf ihm abgebildet sind. Während er alles aufschrieb, was er auf seiner Reise mit seinen eigenen Augen sah, hat er allmählich begriffen, was für einen Fund er auf dem Markt gemacht hat: Es ist ein Geschichtenteppich, den er sich mit lächerlich wenig Geld erworben hat.


Die Schuhe des Messias

Die heilige Stadt Jerusalem glänzt in der Mittagssonne. Im Schatten eines Bogens in einer Gasse der Altstadt sitzt Abraham vor seiner Werkstatt. Er hat einen Schuh zwischen seine Knie gepresst und streicht Leim auf die Sohle, um einen Absatz anzubringen. An ihm vorbei strömen die Leute, die einen bedeckt mit einem weißen Kopftuch, andere mit dem steifen Judenhut. 

Abraham ruft mit klingender Stimme in die Menge: 

„Ich repariere ihre Schuhe, günstig, für nur zwei Schekel.“   

Seine Werkstatt ist ein dunkles, schmales Gewölbe, Schuhe sind aufgetürmt, ein Kasten mit durcheinander geworfenem Werkzeug und Leimdosen steht an der Wand. Abraham zieht es vor, draussen in der warmen Luft, die zärtlich über seine Stirne streicht, die Arbeit zu tun. 

Er legt den Schuh weg, er lehnt nach hinten an die Hausmauer und denkt über sein Leben nach:

Russland im Winter; es pfeift der Wind durch die Bretter der Holzhütte, der Brunnen ist zugefroren, Kälte kriecht an den Beinen hinauf und krallt sich im Körper fest, steife Finger, die Nadel bricht ab, ein böser Husten hockt in der Lunge, aber zuinnerst immer die Sehnsucht: Abraham wird nach Israel, ins heilige Land zurückkehren, wie ein Feuer ist es in ihm, das ihn wärmt und treibt: Ich werde meine wenigen Habseligkeiten auf einen Wagen packen und über Gebirge und Meere, durch Wälder und Schluchten zusammen mit meiner Frau Sara ins gelobte Land ziehen. Ich werde Jerusalem sehen: Du bist die schönste unter allen Städten, in dir wird der Herr sich zeigen, du wirst voller Licht und Freude sein, wenn der Messias zu deinen Toren einzieht. Du bist der Nabel der Welt und mein Gebet, das Gebet eines kleinen, frommen Juden, soll mithelfen, dass Du endlich zu deinem Recht kommst. 

Abraham schreckt aus seinen Gedanken auf, jemand hat ihn angestossen und ihm einen Schuh in den Schoss gelegt: 

 „Der braucht eine neue Sohle, bis heute Abend.“

Oft kann es Abraham kaum fassen, es ist wie ein Traum, und er sagt leise vor sich hin: 

„Ich bin in Jerusalem, meine Holzhütte in Klimovsk im kalten Russland habe ich verkauft. Ich bete jeden Abend an der Tempelmauer; der Messias, wenn er kommt, wird über diese Steine gehen, an meinem armen Schuhmachergeschäft vorbei.“

Jemand ruft vom Dach hinunter, es ist Sara, seine Frau: 

„Hast du Ismael gesehen?“ 

Abraham steigt die schmale Treppe hinauf, aus der engen Gasse öffnet sich der Himmel, es ist wie eine andere Welt auf den Dächern Jerusalems, zwischen Kuppeln und Wölbungen stehen kleine Häuser, die weissen Steine glänzen, beinahe, um im Feuer der Sonne zu verschmelzen. Abraham tritt in die Stube ein, es ist ein enger Raum, auf dem Tisch steht der siebenarmige Leuchter. Sara tritt ihm entgegen, und er fragt besorgt: 

„Ich habe Ismael den ganzen Tag nicht gesehen, ich dachte, er sei bei dir.“ 

„Abraham, wir haben ihn beide sehr ins Herz geschlossen, er ist wie unser eigener Sohn, er hat geholfen, dass unsere Wunden heilten, wie sehr haben wir uns Kinder gewünscht. Jetzt habe ich Angst, es könnte ihm etwas zugestossen sein.“

„Sara, vergiss nicht, dass Ismael einen anderen Glauben hat, er ist nicht im jüdischen Glauben unterwiesen, er ist ein Moslem.“ 

„Bitte, Abraham, tue mir nicht weh. Ja, er ist ein Junge der Beduinen, er hat seine Eltern verloren und bei uns ein Zuhause gefunden. Du schämst dich, auf der Strasse dich mit ihm zu zeigen, aber innen, in deinem Herz, hast du ihn gerne wie deinen eigenen Sohn.“ 

„Ismael wird bald zurückkommen, mache dir keine Sorgen.“ 

Abraham steigt die Treppe hinunter, geht in seine Werkstatt und setzt sich in eine dunkle Ecke:

„Ja, Ismael ist ein tüchtiger Junge, er hat eine geschickte Hand und packt an, wo er nur kann. Er schneidet für mich das Leder und reicht mir die Werkzeuge. Aber gestern hat er mich gekränkt, er hat sich über mich lustig gemacht. Vielleicht war es nicht richtig, ihn in mein Geheimnis einzuweihen: Ich glaube fest daran, dass der Messias, der Herr des Himmels, auf die Erde kommt und alle Ungerechtigkeit beseitigt. Zuerst zeigt er sich seinem Volk Israel in Jerusalem. Es wird Freude und Jubel sein. Die Stadt wird mit Licht übergossen werden. Ich habe mir immer gesagt: Wenn der Messias kommt, muss er die schönsten je von Menschenhand gemachten Schuhe tragen. So habe ich mich an die Arbeit gemacht, um die Schuhe für den Messias anzufertigen. Ich habe sie mit Gold überzogen, feine Ornamente eingeritzt und das beste Leder kunstvoll geformt. Die Schuhe sind mein ganzer Stolz, ich verwahre sie in einem Kästchen in meiner Werkstatt, jeden Abend poliere ich das Gold, dass, wenn der Messias erscheint, er die glänzensten Schuhe anziehen kann. Ismael hat gelacht, als ich ihm die Schuhe zeigte. Er sagte: Darf ich sie mal anprobieren? Er versteht nichts davon, er hat nicht den rechten Glauben.“ 

Abraham legt den Kopf in seine Hände. Er fühlt sich elend, einsam in einer feindlichen Welt. 

„Ist es nicht Zeit, dass der Messias endlich aufsteht und sein Volk zusammenruft, um die Blindheit von den Augen der Menschen zu entfernen.“ 

Abraham steht langsam auf, er will die Schuhe zum Trost in seinen Händen halten und das Gold polieren, dass es glänzt und seine dunklen Gedanken vertrieben werden. Er öffnet den Schrein. Entsetzen packt ihn, der Schrein ist leer, die Schuhe sind weg. 

„Ismael, was tust du mir an. Nur du kannst sie gestohlen haben, der Fluch komme über dich, du zerstörst mein Lebenswerk.“

Es ist mitten in der Nacht, die Stadt schläft, keine Sterne, kein Mond am Himmel. Ismael schleicht in die kleine Stube und will sich auf seine Matte legen. Es bricht wie ein Unwetter los, Abraham springt auf und schimpft: 

„Du Dieb, du Betrüger, komm nicht mehr unter meine Augen.“ 

Ismael stottert: „Was ist geschehen?“ 

Abraham schreit: „Frecher Kerl, willst du auch noch lügen, die Schuhe, wo sind sie?“ 

Ismael wird verlegen: „Ich habe sie wieder zurückgebracht. Ich war an einem Hochzeitsfest, wir haben getanzt und ich wollte schöne Schuhe haben.“ 

Abraham ist ausser sich vor Zorn. 

„Du hast getanzt mit den Schuhen, die für den Messias bestimmt sind! Geh, nimm deine Sachen, ich will dich hier nicht mehr sehen, geh!“ 

Ismael zittert, Tränen sind in seinen Augen. Er sucht seine Kleider zusammen, hängt seine Tasche um, er geht langsam die Treppe hinunter, durch die engen Gassen in die Nacht hinaus. 

Am nächsten Tag sitzt Abraham vor seiner Werkstatt, er hat die Hände in seinem Schoss gefaltet. 

„War es richtig, dass ich mich vom Zorn habe hinreissen lassen? Ismael war ein lustiger Vogel, der unser Gemüt erheitert hat, jetzt singt und tanzt er nicht mehr, er ist ausgeflogen. Sara sagte, sie sei enttäuscht von mir, jetzt spricht sie nicht mehr mit mir.“ 

In der folgenden Nacht träumt Abraham: Stimmengewirr, in der Stadt ist eine grosse Aufregung, Menschen drängen sich in den Gassen, alles strömt zum Tempelbezirk hin, plötzlich Trompetenschall, ein blendendes Licht am Himmel, jemand ruft:  

„Der Messias kommt!“ 

Abraham kämpft sich durch die Menge nach vorne, sein Herz schlägt wild, seine Erwartung ist wie ein Bogen zum Zerreissen gespannt, er kommt zum Tor, die Leute weichen zurück und lassen den Weg frei. Der Messias zieht jetzt in die Stadt ein. Abraham ist geblendet, er schlägt die Hand vor die Augen, dann sieht er langsam auf: Welche Würde ist im Messias, der jetzt unter dem Torbogen hindurch schreitet. Ja, er trägt die Schuhe, die Abraham für ihn gemacht hat. Dann sieht Abraham das Gesicht des Messias: Es ist Ismael. Aber es ist doch unmöglich, dass Ismael der Messias ist! -

Abraham schreckt aus dem Traum auf, er tastet nach seiner Decke, nach dem Bettrand. Es ist nichts geschehen, es ist dunkel, von ferne hört man Schritte, die langsam verklingen. Abraham flüstert: 

„Ismael, bist du da?“ 

In dieser Nacht findet er keinen Schlaf mehr. Am Morgen irrt er durch die Gassen und sucht ihn. 

„Ismael, komm zu uns zurück!“ 

Abraham und seine Frau halten für Ismael ein Bett bereit, immer beim Essen stellen sie für ihn einen Teller hin, in der Hoffnung, dass er zurückkommen und sich mit ihnen versöhnen würde.  


© 2011 Copyright by Matthias Müller Kuhn