Ikonen-Gedichte
1995 / Text und Ikonen von Matthias Müller Kuhn
Der Alltag nimmt seinen Lauf,
die Pflichten, was man tun und bedeuten muss,
die Sorgen, die schwer wiegen, die Freuden,
wenn Kleines gelingt oder Grosses glückt.
Maria ist eine Frau unter vielen anderen.
Das Leben bewegt sie wie der Fluss den Stein,
dass er am Ende rund werde, und wie der Wind
die Wolken, die ohne zu ruhn durch den Himmel ziehen.
Wiederholung ist der Rhythmus der Zeit.
Die Sonne geht unter und kehrt zurück auf ihrer Bahn.
Der Tag neigt sich am Abend
und steigt aus der Nacht wieder auf.
Und der Kreis des Daseins schliesst sich mit dem Tod,
wenn die Blätter fallen udn die Felder kahl dastehen
im Winter. Wir drehen uns, wie der Zeit der Uhr,
um die ewig gleiche Mitte, ohne zu wissen, wohin.
Plötzlich, in ihrem Innersten, sieht sie das Kind.
Aus ferner Welt wächst ein Wesen in ihr,
das ihr Licht verspricht und Weite und Heimat.
Was wirst du mir sein, du in mich gefallener Stern?
Er segnet die Erde mit erhobenen Händen
thronend im Himmel umgeben von Engeln.
Im Taumeln und Tanzen, im Fliessen
und Uebergiessen von Licht erscheint seine Gestalt.
Wo ist Christus? am Himmel sehen wir nur die schnell
sich ändernden Wolkenbilder. Zerstreut von dem Vielen,
was kommt und geht, schimmert vielleicht die Hoffnung
in unseren Augen, dass wir ihn einmal sehen werden.
Unsichtbar wächst die Saat. Sein Segen ist der Regen,
der die Länder der Herzen fruchtbar macht.
Da blüht auf einmal das Gefühl,
wieim Duft einer Rose, ihm nah zu sein.
Doch die Blumen welken,
es bleiben die leeren Hülsen der Frucht.
Unsere augen werden dunkel,
wenn am Abend das Licht erlischt.
Wer die letzte Nacht durchwacht,
geht durch die leuchtende Tür,
die schon immer in unserem Innern
eine Ahnung weit offen stand.
Jesus zieht ein in die Stadt,
wo sich sein Schicksal wendet,
durch das dunkle Tor, unter dem
im Ungewissen das grosse Leid bevorsteht.
König, du regierst über Länder,
wo die Tränenbäume Frucht tragen,
wo die Schmerzen tiefes Erdreich sind
und Gewächse des Trostes glänzen in der Blütenpracht.
Die Menschen jubeln dir zu, doch vielleicht
meinen sie einen anderen König,
der ihre Wünsche erfüllen würde
und die alten, unbequemen Feinde vertreibt.
Der Esel scheint besser zu wissen,
wohin der Weg geht und der Feigenbaum
ist ein Zeichen: Durch die Wüste
des Todes führt die Spur.
Aber dahinter leuchten die Fenster,
die Stadt tanzt, hingerissen vor Freude,
das Licht spielt in den Gesichtern:
Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn.
Geborgen im Schoss, wie von blauen Tiefen
des Meeres umgeben, wächst das Kind
in die grössere Welt, die es nicht kennt,
in schützender Hülle reift die Frucht.
Es gibt Gefühle, die noch wachsen müssen:
Wo pflanzen wir die Trauer ein, dass sie sich entfalte,
wie soll die Freude sich vermehren. Wo ist der Schoss,
der glückliches Wachstum verspricht?
Mutter, in deinem Innern,
wo der Himmel beginnt,
wird zwischen Sternenräumen
unser Schicksal vorbereitet.
Endlich springt die Frucht auf,
und der Kern sucht die Erde,
dass im Stillen das Neue entsteht,
welches uns später zum Staunen bewegt.
Immer wieder werden wir geboren
von der einen in die andere Welt,
und du lächelst nur, wissend,
dass wir am Ende zurückfallen zu dir.
Drei Engel sind in ein seliges Gespräch vertieft,
zu erzählen gibt es vieles von unendlichen
Geschichten wie ein wogendes Meer
verwoben mit Himmel und Erde.
Unsichtbar in begeistertem Spiel
werfen sie den Ball einander zu,
und verstehen sich, von Lippe zu Lippe
gleitet das Wort und macht die Flügel leicht.
Ueber die vielen Widerspräche spannen sie
den goldenen Bogen und fliegen hinüber,
um endlich, was immer in unseren Augen
geschieden ist, zu verbinden.
Sie nehmen unser Leben
wie ein kostbares Juwel in ihre Hände
und reichen es weiter: Glück
gelingt aus unvorhersehbarer Fügung.
Die drei sind ein.
Im Drehen und Ueberstehen,
im Aus sich strömen udn in sich kehren
fliessen sie als Licht durch die Adern unserer Seele.
Neigt das Leben sich dem Ende zu, sehen
wir den Anfang und werden wieder jung,
die Blätter zaubern Farben hervor
und glühen im Herbst, bevor sie fallen.
Herr, nun kann ich in Frieden gehen,
denn meine Augen haben es gesehen.
In einem Kind wächst in kleinen
zögernden Kreisen das Licht.
Und alle, die vertreut und verloren
schon lange warten, dass sie Bedeutung
bekämen und endlich wissen wollen,
wer sie sind, finden eine neue Mitte.
Nicht im Grossen, Hocherhobenen
wächst die Rettung, sondern im kleinen
Unscheinbaren: Träumend von deiner
himmlischen Herkunft halt ich dich in meinem Arm.
Die Blätter taumeln und tanzen im Wind
und bedecken die Erde mit leuchtendem Segen:
Goldenes Versprechen, schliesse nun endlich
auch meine Augen langsam zu.
Sie hört das Meer rauschen
in der Muschel ihres Ohrs. Vogelstimmen
malen ein klingendes Bild in die Luft.
Klein sind die eigenen Wünsche geworden.
Wär ich ein Gefäss und müsste
den Himmel fassen, ich würde
immer überlaufen vor lauter Sehnsucht
nach dir. Die Liebe lässt mich nicht mehr los.
Da hört sie den Engel ihren Namen sagen:
Sie horcht und schmiegt sich in den Klang der Stimme,
von Wellen des Lichtes warm umgeben,
gleitet ihr Mantel langsam von ihrer Schulter.
Du sollst meine Blösse nicht sehen,
doch ich schenke dir meinen Duft
und den Blütenglanz und den Atem
und den schweren Schlaf danach.
Engel, wehe mir mit deinen Flügeln
die Hoffnung zu. Ich habe wenig Raum,
dich aufzunehmen. Ist mein Herz
gross genug, dass darin dein Wort wachse?
Die harten Schalen der Welt
brechen auf und im Innersten wird
das Kind geboren, ein leuchtender Kern
fällt ins schwere Erdreich.
Du bist aus unserer Umarmung entstanden,
ich bin dir so nah. Lass uns
mit den Sonnen tanzen und drehen
in hellen Kreisen: Du bist unser Kind.
Du schläfst in den Armen des Vaters
und breitest feine Wurzeln aus, um
zu wachsen wie ein Baum aus der innigen Mitte
in die noch leeren Räume der Zeit.
Alle warten auf dich. Der Lahme,
dass er gehe, der Blinde, dass er sehe,
die Welt will heraus aus der engen
Hülle springen und frei sein.
Deine Geburt ist Aufbruch. Dein Weg geht
wie Ringe übers Wasser, dass er Gesichter
und Herzen der Menschen berühre und
darin ein erlösendes Lächeln leuchte.
Wen begleitet nicht ein Engel,
der mit seinen Flügeln fühlbar
Räume des Schutzes um uns breitet:
Könnten wir ohne solche Gefährten bestehn?
Was wissen wir von der unsichtbaren Welt?
Plötzlich, in einem Lichtstrahl, ahnen wir
die Verbindung mit ihnen, aber wer sind sie?
Engel gehen lautlos zwischen den Menschen einher.
Wer mit den Winden unterwegs ist,
und am Abend müde den Wanderstab
neben sein Lager legt, bricht mit ihnen
das Brot und trinkt vom Wein.
Herr, bleibe bei uns,
wenn die Nacht uns erblinden
macht und im Dunkeln
unsere Augen erlöschen.
Bewahre den Schimmer in unseren Herzen,
entfache die Hoffnung aus der glimmenden Glut,
dass sich einmal die Flamme entzünde,
in der wir den helfenden Engel erkennen.
Wie du auf den See fährst und
den Sturm stillst und einsame Wege
durch die Wüste gehst und mit dem Gebet
einen Bogen über die Hügel deiner Heimat spannst.
Wie du in blendend weissem Kleid auf dem Berg
die Sonne in die leeren Hände säst
und in den Fluss untertauchst,
dass der Himmel dich mit Licht übergiesst.
Wie du aus der Tiefe mit silbernen Netzen
Fische fängst und in die verschlossenen Ohren
das Wort wie eine heilende Blume legst
und am Ende selbst in den Abgrund des Elends steigst.
Das alles steht in deinem Gesicht.
Auf der Stirn in tanzenden Kreisen wie
Feuerzungen umschlungen spielt die Ahnung,
dass du aus dem Grab auferstehen wirst.
Du schaust uns an aus entfernter Zeit.
In deinem Blick erscheint, was wir sind,
wenn wir vo rdir stehen und der letzte
falsche Schein von uns fällt.
Maria kann es nicht ändern,
unaufhaltsam kommt das Dunkle auf sie zu.
Schreckliche Nächte sieht sie voraus,
wo der Sturm sie entwurzelt.
Durchs Dornengestrüpp getrieben
mit Peitschenhieben. Finsternis
bricht ein in die leeren Augenhöhlen.
Gott, warum hast du mich verlassen?
Dann hebt ihn das Kreuz empor,
er steigt aus den Schatten,
in denen er gestorben war, in den
mit leichten Kreisen sich drehenden Himmel.
Er lebt tief in der Abgeschiedenheit
der Schlucht. In der Wüste
schweigen die Steine und sein Herz
brennt in der sengenden Sonne Gottes.
In seinem Gesicht spiegelt sich
das Schicksal der Erde: Berge
ragen hell in den Himmel und
Abgründe liegen schwarz dazwischen.
Aus dunklem Rachen bedroht
uns das Böse. Der Drache speit
sein schwarzes Feuer in die Herzen,
dass wir uns im Schatten verirren.
In flammender Rüstung kämpft er gegen ihn
und stösst den Speer in seinen Schlund.
Aber was wäre, wenn die Welt in zwei Hälften
zerfiele? Licht und schatten sind Geschwister.
Manchmal nimmt der Drache überhand,
die Menschen sind blind und schlagen
einander Wunden in wütendem Krieg,
Qual und Folter durchglühen die Nacht.
Welche Macht hält uns gefangen?
Mit starken Waffen kannst du sie
nicht besiegen, nur mit einem Lächeln
vielleicht oder mit weit geöffenten Händen.
Wie der schwarze Wolkenturm
des Sturms durch den Himmel zieht
und am Ende alles wie von selbst
weider heiter wird.
Im Innern des Himmels trohnst du.
Wir brauchen solche Boten,
die unsere Bitten vor dich tragen,
dass du mit uns Erbarmen hast.
Sie legen ein Netz um unsere Gefühle
und heben sie aus dem trüben Gewühl
wie glänzende Fische, dass sie hell
durch deinen Atem gleiten.
Auf den Wellen, die durch meine Seele
gehen, schwimmt dein Bild.
Lass ich mich durch die tausend Tiefen
der Stille sinken, berühr ich dich.
Der Himmel kennt keine Entfernung.
Er ist gemischt in jede Bewegung,
wenn ich meine Hand hebe oder über
Plätze der Städte schlendre oder schlafe.
Aber dass wir es sehen und nicht,
von der drängenden Zeit zerstreut, uns
abwenden, bedürfenwir der Fürsprecher:
Gott, halte dein Ohr für uns offen.
Du weinst, weil sich alles
verliert wie die Spuren im Sand
und das Herz müde wird
vom täglichen Verlust.
In deiner Träne dreht sich die Welt
und das Licht spielt darin,
wenn sie zögernd und fast verschämt
über deine Wange rollt.
Trost wächst von allein
wie in breiten Jahresringen der Baum,
den du noch so unscheinbar klein
in die Muttererde pflanztest.
Er wird gross. Wissend, dass du
seine Früchte nicht behalten kannst,
reichst du sie weiter und sie reifen
von Abschied zu Abschied zu grösserer Fülle.
Was bleibt am Ende bestehen? In deinen Augen
wird der Himmel weit, wenn die Wolken
der Trauer vorbeigezogen sind und du vom Licht
wie ein leeres Gefäss erfüllt wirst.